“Das
Ergebnis meiner Arbeit ist eine Übersetzung der Wirklichkeit. Zum einen
wird die Figur im Raum mit ihr ins Verhältnis gesetzt, zum anderen
spiegelt die Summe der Wahrnehmungen die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit
wider.”
In der
Quantenphysik wird die These vertreten, dass ein Teilchen auf seinem Weg
von einem Ort zum anderen jeder möglichen Bahn in der Raumzeit folgen,
somit jede mögliche Geschichte durchleben kann. Jede dieser
Möglichkeiten bezeichnet eine Geschichte und die Summe all dieser
Geschichten ergibt den einzig “wahrscheinlichen“ Weg, wobei jede
mögliche Geschichte ihre eigene Wahrscheinlichkeit hat. Diesen
wissenschaftlichen Ansatz hat Gregor Gaida (*1975 Chorzów, Polen)
aufgegriffen und auf das Leben und die Kunst übertragen. In seinem
philosophischen Ansatz der “Summe der Geschichten” beschreibt er die
Theorie des menschlichen Handelns als die Konsequenz aus der Summe aller
bereits geschehenen Ereignisse.
In seinen Skulpturen verleiht Gaida diesem Ansatz regelrecht
Gestalt und erzählt Geschichten ohne sie auszuformulieren. Es sind
Allegorien des Zeitgeschehens, die in ihrer Offenheit und
Undefinierbarkeit die verschiedenen Möglichkeiten einer Geschichte
suggerieren.
Widersprüche im aktuellen und geschichtlichen Kontext und im
gesellschaftlichen Wertesystem lassen Konzepte entstehen, die sich dann
zu Bildmotiven verdichten. Als hinterfragender Beobachter dokumentiert
er Menschen, die vor einer persönlichen Entscheidung stehen und an
diesem Scheideweg protokolliert er deren Gestik und Mimik bis ins
kleinste Detail. Seine Skulpturen zeigen singuläre Augenblicke, die
nicht nur die Summe der Ursachen, sondern auch alle sich aus diesem
Moment ergebenden Möglichkeiten implizieren. Meist sind Fotografien
individueller Ausgangspunkt der Arbeiten, wobei die Haltung und Gestik
der Protagonisten sowie die Komposition eine jeweils eigene Wertigkeit
erfahren. Die ursprüngliche Aussage der Bilder wird daraufhin durch das
Freistellen des Bildausschnitts entfremdet und öffnet dem Betrachter
schlussendlich die Möglichkeit einer freien Interpretation.
Bei der Arbeit “Lateral III” vereinigt der Künstler positiv
aufgeladene Komponenten wie das Motiv des Kindes, die Farbe weiß und die
Reinheit des Waschpulvers. In ihrer Summe und Konstellation jedoch
zeigen sie eine negative Wirkung und rufen beim Betrachter Irritation
hervor. Das erzeugte Bild changiert hier zwischen Anziehung und
Abstoßung. Ähnliches geschieht bei der Arbeit “Kind und Kreide”, die
zunächst die Kindheit mit ihrer Unschuld und Reinheit zum Thema zu haben
scheint. Erst der zweite, nähertretende Blick des Betrachters
verdeutlicht das Ausmaß der scheinbar spielerischen Szene: In absoluter
Ebenbürtigkeit mutieren die Spielgefährten zu Gegnern, die sich bewusst
voneinander abgrenzen.
Der narrative Charakter des Figürlichen ist in Gaidas Werken
stets sehr stark ausgeprägt und so muten die Figuren, die in ihren
anatomischen Einzelheiten und Physiognomien detailgetreu
herausgearbeitet wurden, seltsam lebendig an. Klassisch und zeitlos
wirkt auch das leicht lasierte Holz, das neben anderen Materialien wie
Aluminium, Polyester- und Acrylharz sehr häufig zur Anwendung kommt.
Neben der feinen Holzmaserung scheinen nämlich immer wieder Astlöcher
und kleinere Unregelmäßigkeiten durch die weiß lasierte Oberfläche von
Haut, Haaren und Kleidung. Ihre innere Substanz, der eine organische
Vitalität zu eigen ist, wird offen gelegt und so gewinnen die Figuren
Gaidas ihre ambivalente Lebendigkeit.
Gregor Gaida verbindet Ansätze aus Fotografie und Malerei zu
einzigartigen Skulpturen. Seine Objekte können als dreidimensionale
Momentaufnahmen gelten, da die Protagonisten an ihren imaginären
Bildrändern beschnitten und ihrem eigentlich Aktionsrahmen entrissen
werden. Dieser fragmentarische Charakter ist es, der den Betrachter dazu
auffordert die “Summe der Geschichten” selbst zu ergründen.
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