Geben und Nehmen – Akte der Aggression

In Sebastian Gögels Arbeiten erscheint die Welt als ein unübersichtlicher Ort permanenter Widersprüche und Konflikte. Sein Kunstgriff besteht darin, überall in seinen Bildern unterirdische Fallen, Verstecke und Geheimnisse, Spalten und verdeckte Hintergründe zu zeigen und alle Dimensionen auf den Kopf zu stellen. Eine düstere Welt tut sich auf, die bevölkert ist von Zwitterwesen, die zwischen Mensch und Tier und allen bekannten und unbekannten evolutionären Zwischenstadien stehen. Die Ansichten, die Gögel zeigt, verkehren die Realität in ihr Gegenteil: Innenwelten werden nach außen gestülpt, Körpern wird die Haut abgezogen, um ihre fleischige und formlose Substanz zu zeigen, Extremitäten werden verdreht und verlängert, Köpfe werden aufgebläht, Augen verschoben und Nasen übermäßig verlängert. Die Räume sind unübersichtliche Fallgruben, in denen jede denkbare Angst und Anspannung stattfindet. Gögel kreiert ein überzogenes Pandämonium, in dem alle abgründigen und ungreifbaren Phantasien ihre Form finden. Er treibt das Spiel der Verzerrung und Spiegelung auf die Spitze; der Künstler multipliziert in vielen seiner Bilder unentwegt unterschiedliche Bedeutungen und Aussagen. Dieses Übermaß an Aussagekraft und Energie wird immer wieder aufgefangen durch Arbeiten, die nüchtern und geklärt der großen pastosen Geste gegenüberstehen. Auf diesen Bildern zeigt Gögel ein Spektrum sozialer und individueller Anspannung, indem er die Protagonisten in strengen Hierarchien und einer selbst auferlegten Disziplin erstarren lässt. Immer wieder malt und zeichnet er die verbissenen und verzerrten Gesichtszüge unterschiedlicher Typen.

Diese Figuren sind Ausdruck einer degenerierten sozialen Welt, in der jeder versucht, sein Gegenüber zu durchschauen, zu beurteilen und zu hintergehen. Unter den Vorzeichen eines falschen Respekts und vorgespielten Interesses wird hinterrücks jede Achtung fallen gelassen und konsequent der eigene Vorteil gesucht. Gögel kommentiert in seinen Bildern den allgemein verinnerlichten sozialen Leistungskatalog. Der Zwang zur Selbstdarstellung und zur permanenten Konkurrenz, der unter den Menschen herrscht, und die daraus resultierenden Ängste und Destruktionen hält er mit spannungsvollen Strichen präzise fest. Gögel ist dennoch kein Sozialkritiker oder Karikaturist. Sein Kommentar hat stets eine surreale Wucht und hebelt das Repertoire einfacher Gesellschaftskritik und psychologischer Analyse aus. Wenngleich es immer wieder Momente in seinen Bildern gibt, in denen eine Figur oder ein Detail eines Körpers in bekannter Ausprägung erscheint, sind seine Interpretationen und unmöglichen Konstellationen das Gegenteil von Realismus. Die Körper versinken auf diesen Bildern in einer wüsten und dunklen Welt, in der alle Wunden offen sind und es keinen Punkt gibt, der eine geläuterte Übersicht gestattet. Aber Gögels Bilder sind bei aller Dramatik und Apokalypse auch von Humor durchsetzt. Ein anarchischer und jungenhafter Witz, der unbekümmert und arrogant die philosophische Tiefe und existenzielle Härte des Lebens annulliert. Man spürt deutlich, dass es ihm nicht nur um Kommentar und Interpretation der vermeintlichen Wirklichkeit geht, sondern auch darum, eine eigene Welt, mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zu malen und zu zeichnen. Die Bilder sind damit nicht nur Brennpunkte der Erkenntnis und der Kritik, sondern im gleichen Maße auch Fluchtpunkte für die Gefühle und Gedanken des Künstlers selbst.

Wie bei einer Obduktion treten in vielen seiner Bilder die unsichtbaren Organe und sonstigen Bestandteile des Körpers hervor. Selbst in der gereinigten und sterilen Atmosphäre der Pathologie, die unter den Vorzeichen der Medizin und Forschung den Körper aufschneidet, werden beim Zuschauer der Ekel und die Angst vor Gallert und Tod hervorgerufen. Gögel verzichtet gänzlich auf Sterilität. In seiner Malerei schmiert die eine Ebene in die anderen, laufen die Sekrete und Farben ineinander, werden Augen zu Schlitzen einer Henkersmaske, Haut zu Fell, Extremitäten zu sinnlosen Wülsten, Tiere zu Menschen und Menschen zu irgendetwas. Angst, Ekel, Widersinn und ein subtiler Humor finden sich in diesen Bildern. Bevor aber alles in einer ungreifbaren und unstrukturierten Bilderwelt von beliebiger Behauptung untergeht, schafft Gögel es immer wieder, objektivierbare Fakten ans Licht zu bringen. Die von ihm manchmal überstrapazierte Umkehrung und Verdrehung der Formen und Relationen wird dann in den Bildern auf reale Ursachen zurückgeführt. Gögel folgt hier einer einfachen und konkreten Spur und verfolgt den Weg von außen nach innen. Viele seiner Figuren stopfen irgendeinen Fraß in sich hinein, sitzen am Tisch und füllen ihre Münder und Mägen mit Wurstketten, schöpfen aus Trögen und Tellern, schlürfen Suppe oder essen Nudelberge. Das in sich Reinfressen, als Kompensation äußerer wie innerer Leere, durch unkontrollierte und häufig schuldbesetzte Nahrungsaufnahme ist ein bekanntes psychologisches Symptom. Der Verlust der Aufnahmekontrolle und der Zwang zum Konsum sind jedoch nicht nur Sinnbilder privater Malaisen, sondern auch Ausdruck einer inhaltlosen und ausschließlich auf Verbrauch konzentrierten Gesellschaftsform. Doch nicht nur Essen wird in den Bildern konsumiert, genauso häufig werden Worte und Geste heruntergeschluckt und verdaut.


Geben und Nehmen, Greifen und Grapschen, Umklammern und Verdrängen: die Körper sind auf Gögels Bildern nicht grundlos, aber bewusstlos ineinander verschränkt. Diese unheilvollen Allianzen müssen allerdings nicht nur materiell und körperlich greifbar sein, sondern können sich auch auf der mentalen Ebene, als psycho-sozialer Zwang zeigen. Die Konstellationen, die Gögel dann zeigt, sind wahrscheinlich die tragfähigsten Bildaussagen des Künstlers. Bilder wie Bitte Feuer (2005), Schuhladen (2006), Frequenz (2005), Komponist (2006) oder Sauger (2005) zeigen eine Welt voll von Abhängigkeiten, Spannungen und unfreiwilligen Rollenverteilungen. Die einfache Geste des Feuer-Gebens unter Rauchern wird zu einem Akt der Erwartung und der Projektion und zeigt die angestrebte Vorteilsnahme seitens des Gebers und die aggressive Selbstgefälligkeit des Nehmers. Komplexer ist die Szene im Schuhladen. Der entpersonalisierte Verkäufer, dessen Gesicht hinter einem Stapel Schuhkartons verschwindet, muss dem eitlen Beau sämtliche Schuhmodelle präsentieren. Blind für die hierarchische Konstellation, schenkt der Käufer nur seiner eigenen Eitelkeit Aufmerksamkeit und sieht dabei nicht, dass die ganze Schuhkollektion aus dem immer gleichen Modell besteht. Der übergroße Schuh im Fenster signalisiert das Alles und das Nichts des Fetischs: Schuhe, Schuhe, Schuhe! Selbst das banalste Ding wird im Kapitalismus aufgeladen, instrumentalisiert und zum Ausdruck aufgegeilter Moden und Attitüden. Im Bild Komponist geht Gögel noch einen Schritt weiter. Gestriegelt und angespannt versucht der Pianist, seine Aufführung so gut wie möglich zu bestreiten, schaut dabei voller Konzentration auf die Tasten seines Flügels, bewegt rhythmisch die Füße und hat vor sich eine Miniaturbüste. Aber nicht Wagner oder Beethoven sind modelliert, sondern der Spieler selbst. Er allein repräsentiert die Geschichte der Musik und zeigt seinen verklemmten Kampf mit der Kunst. Die Musik bleibt unhörbar, wir sehen nur den verspannten Körper, die manierierte Figur des Musikers, der sich und sein Publikum unter keinen Umständen enttäuschen darf. Der Gedanke, es nicht zu schaffen und damit sein vermeintliches Scheitern öffentlich zu machen, verkörpert sinnbildlich die Perversion und Biederkeit des künstlerischen Anspruchs an das eigene Werk und die Vorstellung von der Bedeutsamkeit der eigenen Person.

Der Auftrag (2006) schließlich zeigt, dass das Prinzip vom Geben und Nehmen auch Gewalt bedeutet. In diesem Falle ist der Auftrag ganz klar: Hinschlachten und Töten. Gögel zeigt ein seelenloses Monstrum, das an die mechanisch anmutenden Körper eines Richard Lindner erinnert. Bei Gögel sehen wir allerdings keine entfremdeten Großstadtmenschen, sondern eine blutverschmierte Fratze, die auf einem metallischen Körperpanzer sitzt und mit zwei Revolvern auf die Betrachter zielt. Der Killer hat sich verdoppelt, ist schneller als sein Schatten und wird von nicht minder aggressiven und tötungswilligen Miniaturausgaben seiner selbst begleitet. Der futuristische Cyborg-Cowboy bringt die in vielen von Gögels Bildern gezeigte Latenz von Gewalt auf den Punkt: im Zweifelsfalle bedeutet Selbstverteidigung immer Angriff und endet das Prinzip von Geben und Nehmen im tödlichen Desaster.

© Maik Schlüter, VG Wort, Bonn 2006