Es singt etwas ganz kreideweiß
Die erstaunliche Malerei von Léopold Rabus jenseits der Prinzen unserer Tage


»Als er das Dickicht hinter sich hatte, erblickte er auf dem Feldweg einen großen Erdklumpen, der aus dem Wiesenbord herausgerissen worden war. An dieser Stelle im Wiesenbord schauten die Waben eines zerstörten Wespennestes hervor. Mitten im Schräghang stand ein alter Schuppen, dessen Wände so stark eingeknickt waren, dass das Dach den Boden berührte. Um einen etwaig im Schuppen hausenden Fuchs zu vertreiben, ging Adrian die einzelnen Wände entlang und schlug mit einem Knüppel dagegen. Zusätzlich warf er noch einige herumliegende Steine auf das Dach, wodurch ein, zwei Ziegel sofort brachen.«¹
Franz Böni, Der Dorffuhrmann


Keine Morcheln, aber eine steile Treppe

»Nein, sie sind noch nicht da«, ruft Léopold Rabus durch den lichten Wald und sucht zwischen den vom gerade geschmolzenen Schnee platt gedrückten Blättern des vergangenen Jahres nach Morcheln. Es ist noch zu früh, denn der Winter war seit längerem wieder ein richtiger Winter. Zusammen mit seiner Frau Anna Hirsch laufen wir wieder den waldigen Hang hinauf, erreichen eine kleine, einspurige Fahrstraße und folgen ihr in nördlicher Richtung. Im blendenden Licht dieses aucuersten Frühlingstags öffnet sich zwischen dürren, blattlosen Bäumen eine fantastische Fernsicht auf einen Horizont schneebedeckter Alpen, die mit einem unwirklichen Realismus ihr gezacktes Profil wie eine Fata Morgana an den Himmel projizieren. Wir bewegen uns auf halber Höhe parallel zum Neuenburger See in einer Zone zwischen den Wandergebieten des Juras weiter oben und dem im Sommer stark belebten Ufer unter uns. Ein ganz und gar untouristischer Streifen, nur von wenigen, ortsansässigen Personen begangen. Wir passieren zwei oder drei Wohnhäuser der 1960er-Jahre, gut versteckt hinter hohen Thujenhecken. Es ist still hier, sehr still. Léopold Rabus deutet mit erhobener Hand auf das Knacken eines kahlen Baumes. Auf den hügeligen Weiden der Umgebung ist noch kein Vieh zu sehen. Wir nähern uns einem Gehöft, das sich links und rechts der Fahrstraße ausbreitet. Ein Schimmel steht in einer Garage und dreht sich kauend zu uns um. Léopold Rabus hält auf ein Gebäude rechts des Weges zu, durchquert niedergedrücktes Gras, während ich mich wundere, was er mir dort zeigen will, ein so banales Gebäude, weder bemerkenswert alt noch spektakulär verfallen, nichts Auffälliges, sondern ganz normal abgelebt, offenbar nicht mehr in Gebrauch. Selbst der Zweck ist nicht zu deuten: Diente es früher einmal der Landwirtschaft oder einer kleinen, handwerklichen Produktion? Léopold Rabus bleibt unmittelbar vor dem Gebäude stehen und zeigt auf den Boden. Erst als ich direkt neben ihn trete, öffnet sich überraschend ein steiler Kellerabgang in die Tiefe, ungesichert, ohne Geländer, die Tür unten steht offen, das Fenster eingeschlagen. Und plötzlich erkenne ich das Motiv des Bildes Le point d’eau (Am Wasserpunkt, 2008). Unvermittelt, wie aus dem Nichts, taucht das Bild vor mir auf und fällt mit dem banalen Ort zusammen. Natürlich gewinnt Le point d’eau erst durch die prekär über dem dunklen Abgrund balancierende Figur an Dramatik, und die Verkettung von Händen und Armen tut das Übrige dazu, doch hier nahm die Vision dieses Bildes ihren Anfang, dies ist das natürlich gewachsene »Setting«. Es ist erstaunlich zu sehen, wie wirklichkeitsgetreu das gemalte Bild die Situation vor Ort wiedergibt und sie zugleich in eine vollkommen andere Welt überführt, in der Traum und Melancholie ebenso miteinander verschmelzen wie existenzialistische und romantische Empfindungen. Natürlich ist etwas davon auch vor Ort wahrnehmbar, aber viel diffuser, weil zu viele Dinge ringsherum die Konzentration auf diese eine Ansicht beeinträchtigen. Auf dem Rückweg ins Atelier kommen wir an einer Abzweigung vorbei, die wir das letzte Mal im Oktober 2008 genommen haben, um unweit der Straße das Auto abzustellen und ein nur noch sehr selten bewohntes Gebäude aufzusuchen, in einer Baumgruppe sich halb versteckend, verschiedentlich umgebaut für unbekannte Zwecke. Dieser Ort liegt nicht mehr als einen Kilometer Luftlinie von dem eben besuchten Kellerabgang entfernt. In der Nähe des rätselhaften Gebäudes zeigte mir Léopold Rabus ein anderes, niedriges Haus, von Brombeeren halb überwuchert, in dem Matratzen und Müll auf gelegentliche Nächtigungen schließen lassen. Der Geruch des Abgelebten und Verfaulenden hing leicht süßlich vergoren im Halbdunkel des Raumes. Wer nächtigte zuletzt? Was geschah? Und was dachten die Leute, die sich hier aufhielten? Fragen, die einem sofort in den Kopf steigen, so eindringlich, um nicht zu sagen aufdringlich morbid ist dieser Ort, an dem sich die Zeit im Dornengestrüpp verfing, vergessen wurde und schließlich ganz verloren ging. Doch Léopold Rabus, wie immer in erstaunlich heiterer Verfassung, scheint vom Schweren und Brüchigen dieser Orte unberührt, nimmt diese Plätze wie Geschenke freudig, ja begeistert entgegen. Hier ist kein bodenschwerer Künstler in Selbstauflösung unterwegs, ganz im Gegenteil, seine beschwingte, beinahe kindliche Heiterkeit steht in scharfem Kontrast zu diesen Schauplätzen des Unheimlichen.


Im Nirgends

Es sind diese aufgegebenen Orte ehemals menschlicher Tätigkeit im Off unserer globalisierten Zeit, die Léopold Rabus magisch anziehen. Während andere Kunstschaffende ihre künstlerische Erfüllung in den Metropolen der Welt suchen und auf der Suche nach ausgefallenen Reizen immer weiter entfernte Destinationen ansteuern, fokussiert Léopold Rabus die unspektakulären Orte des Verfallenen und Vergessenen gleich bei sich zu Hause um die Ecke – eigentlich so beschämend nah, dass es fast einem Tabubruch gleichkommt, die Bildmotive derart ungeniert aus dem heimischen »Garten« zu beziehen. Kann das wirklich sein? Ist es möglich, dass sich die Themen für dieses großartige malerische Statement buchstäblich neben dem Atelier finden, dass sie sozusagen mitten unter uns sind, ohne dass wir sie sie in all den Jahren bemerkt hätten? Keiner dieser aufgegebenen Hütten, keinem der alten Zäune und abgestellten landwirtschaftlichen Geräte an den Abhängen des Jura wird man je eine Träne nachweinen, geschweige denn ihre Vergangenheit erforschen. Die materiellen Reste sind wertlos und unbrauchbar, ihre Beseitigung würde nur unnötig Geld und Arbeitskraft kosten. Also stehen sie hier als trotzige Zeichen einer anderen Zeit und überziehen das Land, hat man erst einmal einen Blick für sie entwickelt. In keiner Weise kann man an ihnen etwas Besonderes, Auffallendes oder in irgendeiner Form Wertvolles finden: handfeste Spuren allerdings von Individuen, die sich hier einmal mühten, dem Land etwas Nahrhaftes abzugewinnen. Aber ihr Gestaltungswille hat sich buchstäblich in Luft aufgelöst, die Personen von anno dazumal sind nicht mehr da oder steinalt geworden, und die materiellen Reste ruhen windschief als schweigende Schatten ihrer selbst in der Landschaft und dienen nur gelegentlich noch als zwielichtige Schauplätze notfallmäßiger Nächtigungen oder verbotener Liebe.


Drama

In zunehmendem Maß spielt in den Bildern seit 2005 die Landschaft um Corcelles-Cormondrèche nahe Neuchâtel eine wichtige Rolle. Auf Spaziergängen durchstreift Léopold Rabus die ihm vertraute Gegend, in der er aufgewachsen ist. Die Fotokamera immer bei sich, hält er fest, was ihm interessant erscheint, ob ein verfallenes Gebäude, niedergedrücktes Gras, tote Tiere oder einen glimmender Himmel am Abend. So entstand im Laufe der Jahre eine umfassende Sammlung an Farbfotos in Gestalt von Papierbildern, die – sorgfältig geordnet nach Motiven – im Atelier so abgelegt sind, dass der Künstler raschen Zugriff auf sie hat. Dieses Arsenal ergänzt er fortlaufend durch Fotos aus Zeitschriften und Büchern. Léopold Rabus beginnt seine Bilder mit einer klaren Vorstellung der Inhalte und Motive, basierend auf persönlichen Erlebnissen. Die Komposition und Zusammenstellung der Figuren und Objekte leitet er aus den Fotos ab. Mit einem Projektionsapparat wirft er sie auf die vorbereitete Leinwand. Dabei kombiniert er ganz unterschiedliche Fotografien miteinander, verschränkt Hintergründe mit Figuren, Tieren und Objekten aus anderen räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen. Dabei geht es ihm weder um topografische Wiedererkennbarkeit noch um die Nachstellung einer konkreten Begegnung im Wald. Nicht die Landschaft ist das Thema, sondern das, was sich dort draußen potenziell ereignet und was wir Betrachter uns bei der Wahrnehmung der Bilder vorstellen können. Die Landschaft ist so gesehen die Bühne, auf der sich paradoxe menschliche Konstellationen entwickeln und bizarre Dramen abspielen, so beispielsweise in Scène d’alpage (Alpenszene, 2008), wo einige ineinander verstrickte Personen auf eine geheimnisvolle Erdhütte zustreben. Zwar wendet der Künstler ein in der zeitgenössischen Malerei verbreitetes Verfahren an, mithilfe von Fotos eine neue Bildrealität zu generieren, doch schlägt er einen ungewohnten Weg ein, indem er seine Figuren mit einer absurd verwickelten Situation konfrontiert. Auf den ersten flüchtigen Blick irritieren die Figuren mit ihrer scharfkantigen Drastik, doch schon auf den zweiten öffnen sich ungeahnte psychologische Tiefen, und alte, malerische Themen treten plötzlich an die verschlissene Oberfläche zeitgenössischer Malerei. Etwas dramatisch Sinfonisches strahlen diese Bilder aus, als gehörten sie einer anderen, irrealen Welt an, und doch nehmen sie ihren motivischen Ursprung in der dörflichen Banalität gleich nebenan. Dass sich die große Oper an einer derart matten Bescheidenheit entzündet, ist eine der großen Überraschungen dieser Malerei. Den Bildern entströmt ein explosives Gemisch aus Abgründigkeit und Romantik, aus heiterer Skurrilität und religiösem Anflug, das ein unwirkliches, traumartiges Geschehen wie einen irrealen Ballon in unserer nervös flackernden, global getakteten Zeit aufsteigen lässt. Ist das ein Verhängnis? Das auffallende Personal seltsamer, bizarrer Typen findet Léopold Rabus zum großen Teil in seiner unmittelbaren Umgebung. Natürlich nutzt er seine Fähigkeit, durch virtuose, karikaturhafte Übertreibung bestimmter Körpermerkmale in souveräner Überzeichnung das Skurrile und Seltsame besonders hervorzuheben. Aber es gibt sie tatsächlich, die konkreten Vorbilder: in der Nachbarschaft, im Dorf, angetroffen auf Begegnungen im Wald, oder manchmal auch in Zeitschriften und Büchern des letzten Jahrhunderts. Sie alle eint typischerweise eine Eigenschaft, die man auf Schweizerdeutsch treffend mit »verschupft« bezeichnet, was so viel bedeutet wie: gering geschätzt, stiefmütterlich behandelt, weshalb die betreffenden Personen leicht angeschlagen oder ängstlich wirken. Eigentlich Menschen wie du und ich, die jedoch ihr Bündel deutlich sichtbar mit sich schleppen und nicht gerade den in der Werbung gepriesenen Schönen, Jungen und Reichen trendiger Urbanität entsprechen. Es ist den Dargestellten nicht ohne Weiteres zuzutrauen, dass sie sich in der großen, weiten Welt behaupten könnten, vielleicht sogar nicht einmal in ihrer dörflichen. Gemeinsam ist ihnen jedoch eine Charaktereigenschaft, die in der global gebügelten Welt immer seltener wird: unangepasst sein. Oder umgekehrt formuliert: Léopold Rabus zeigt wahre Originale, die ihresgleichen suchen, die einfach sie selbst sind, ohne medialisierten Vorbildern hinterherzurennen. Dies trifft hauptsächlich auf die männlichen Figuren zu. Die vor allem in den früheren Bildern auftretenden weiblichen Figuren hingegen tragen oft die Züge von Anna Hirsch, der Frau des Künstlers. Unterstützt durch ihr häufig nass erscheinendes Haar, den auffallend blassen bis kreideweißen Teint und die extreme perspektivische Verkürzung entspricht die Figur einer Femme fatale, wie sie im Buche steht. Man weiß nie so recht, was sie gerade im Schilde führt: ob sie eine Falle gestellt hat, jemanden vergiften, ermorden oder im Gegenteil verführen will. Es scheint, als sei alles möglich und würde ihr ein heimliches Vergnügen bereiten. Eine suggestive, beinahe schicksalhafte Figur, die wie keine andere in den Bildern gleichermaßen Tod und Leben verkörpert. Ein Engel des Guten wie Bösen. Wenn uns Léopold Rabus früh Gealterte und Verschnarchte, Einfältige und leicht Lernbehinderte, Altkluge und Boshafte präsentiert, dann nicht, indem er mit der moralischen Anklage der Achtundsechziger reflexhaft Partei ergreift, sondern im Gegenteil mehr oder weniger karikaturhaft zugespitzt, weshalb sie sogleich unsere Aufmerksamkeit wecken und manchmal auch Schadenfreude auslösen. Allerdings legen die Dargestellten im Maße unserer Belustigung ihre Verstrickung ins jeweilige Geschehen dar, ihre Unbeholfenheit, der Situation gerecht zu werden. Spätestens an dieser Stelle ertappen wir uns selbst, wie wir in ähnlichen Situationen gescheitert sind, mindestens so ungeschickt wie sie Fehler begangen oder Verwirrung gestiftet haben. Indem Léopold Rabus uns zunächst erheitert und auf diese Weise über diese Personen scheinbar erhaben macht, eine sichere Entfernung zu den Hinfälligen vorspiegelt, lässt er uns im nächsten Moment umso tiefer in die Abgründe menschlicher Existenz stürzen – und zwar ohne Netz und doppelten Boden. Kaum dass wir fallen, schlägt unsere Erheiterung in Angst und Schrecken um. Die Figuren der Bilder sind elementaren Antrieben ausgesetzt, die seit jeher die Menschen im selben Maße belasten wie beglücken, ängstigen wie erfreuen, wodurch sich das menschliche Rad von Generation zu Generation weiterdreht. Diese triebhafte Energie ist ein archaischer Motor, den wir nicht abstellen können, weil er notwendigerweise den eigenen Lebenserhalt verfolgt. Chemisch und psychologisch, hormonell und genetisch die große Bühne des menschlichen Glücks und Unglücks betretend. Worum geht es? Um Gewalt und Lebenserhalt, um Hunger und Nahrung, um Liebe und sexuelle Gier, um Zerstörung und Verzweiflung, um Mord und Totschlag, um Geburt und Erlösung, um Gut und Böse. Die große Bühne. Und alle »Verschupften« mittendrin. Keine Helden, wirklich nicht. Auch keine Identifikationsfiguren oder pädagogisch wertvollen Vorbilder. Dafür ersteht vor uns das fantastische, traumwandlerisch aufscheinende menschliche Drama der materiellen und psychologischen Verstrickungen mit der Welt, mit dem Gartenzaun, dem toten Fuchs, der abgelebten Matratze. Die Personen sind Getriebene, die sich redlich mühen, klarzukommen, dem drohenden Verhängnis zu entgehen. Doch sie sind geschlagen mit Unfähigkeiten und Defiziten, so dass ihr Tun in Vergeblichkeit mündet. Als Opfer vielfältiger Missgeschicke sehen wir sie in sisyphushafter Bemühung, das Ungeschick bewältigen und dem Übel entkommen zu wollen, wie zum Beispiel die Personnes déplaçant un matelas (Personen, eine Matratze wegtragend, 2009). Doch sie erreichen keine Klärung der Situation, keine Lösung des Problems. Es kommt zu keiner Entscheidung, im Gegenteil, das Unheil wächst sich in manchen Bildern zu wahren Katastrophen aus. Die Situation bleibt gespannt, verworren und in sich verstrickt. Die Traurigen haben sich verrannt und neigen bisweilen dazu, sich in der Landschaft autistisch zu verpuppen.


Es dunkelt

Obwohl oder gerade weil Léopold Rabus seinen Personen durch Mode und Haartracht den nostalgischen Charme vergangener Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verleiht, löst er sie aus einem zeitlich klar bestimmbaren Kontext und verleiht den Bildern eine seltsam schwebende Zeitlosigkeit. Hinzukommt die technische Virtuosität seiner Malerei, ein zugleich weicher wie scharfkantiger Naturalismus, eine faszinierende, dunkeltonige Altmeisterlichkeit mit einem ungeahnten historischen Hallraum, der vielfache Echos aus fernen Epochen der Malereigeschichte mit sich führt. Dies trifft vor allem auf die neuen Bilder seit 2008 zu, die oft enorme Formate haben. Aber was bedeutet eigentlich Altmeisterlichkeit in der Gegenwartsmalerei? Einen Anachronismus, einen Tabubruch, einen Absturz, gar die Negation der Moderne? Woher kommt der erstaunliche Naturalismus von Léopold Rabus? Und ist es am Ende überhaupt einer? Viele Fragen, schwierige Fragen. Natürlich malt der Künstler nicht im Stil von Matthias Grünewald oder Hieronymus Bosch, von Johann Heinrich Füssli oder Arnold Böcklin. Aber wie jene großen Meister spürt er dem magischen Geheimnis physischer Verwandlung nach. Warum wird aus Fleisch Brot, aus einer Frau ein Dämon, aus einer nächtlichen Insel ein Totenreich? Jenseits dieser Mysterien kann man auch bei Léopold Rabus gelegentlich religiöse Anflüge bemerken, die sich zwar nicht vordergründig in christlichen Motiven äußern, aber zum Beispiel in der Art und Weise, wie das natürliche Licht die dunkeltonigen Landschaften moduliert, oder in der Hinfälligkeit menschlicher Existenz. Manchmal entstehen Stimmungen einer ungreifbaren, fatalistischen Romantik und Religiosität, die zugleich etwas Verzaubertes mit sich führen. Als würden die Bilder von einer zurückliegenden Zeit erzählen, vermischen sich – wie bei der mündlich weitergetragenen Überlieferung einer Geschichte – Wirklichkeit und Legende,Mutmaßung und Imagination. Statt einer rationalen Annäherung an seine Themen bevorzugt Léopold Rabus die intuitive Nähe zum Volkstümlichen, zum Glauben und Meinen der Figuren seiner Bilder, also der Personen seiner dörflichen Umgebung, was sich auch in vielen anderen Arbeiten widerspiegelt, zum Beispiel in der Installation Arc-en-foin (Heubogen, 2008) oder dem Video L’eau du guide (Das Wasser des Predigers, 2004). Léopold Rabus gelingt es, sich perfekt in ihre Befindlichkeiten, Meinungen und Ängste einzufühlen. Die historisch gewachsenen Gepflogenheiten und Traditionen, die alten, mündlich überlieferten Geschichten, die sozialen und religiösen Prägungen sind gemeinsam mit den Landschaften und ihren Tieren der Humus seiner Werke. Jenseits der schicken Oberfläche unserer medialisierten Zeit spürt der Künstler in alten, tradierten Verhaltensweisen, subjektiven Dafürhaltungen und Meinungen – vor allem wenn sie ins Absurde und Fantastische münden – eine archaische Energie auf, die für seine Bilder eine entscheidende Antriebskraft darstellt. Dass er sich vom Uneleganten und Unvorteilhaften nicht abschrecken lässt, im Gegenteil, mit viel Sympathie und Freude seinen Figuren zuhört, zeichnet seine künstlerische Haltung aus und ist für das Verständnis seiner Bilder zentral. Léopold Rabus ist von Corcelles-Cormondrèche nicht wegzudenken. Aber Corcelles-Cormondrèche steht für die Welt. Corcelles-Cormondrèche ist überall. Genau betrachtet sind die Bilder gar nicht flächendeckend naturalistisch gemalt, sondern lediglich kleine Partien zeigen eine realistische Schärfe, die weitaus größeren Bildteile sind hingegen erstaunlich abstrakt gehalten und setzen sich erst aus gewisser Ferne betrachtet zu einem gegenständlichen Gefüge zusammen, wie die Personnes derrière une serre (Personen hinter einem Gewächshaus, 2009). Auf diese Weise hebt Léopold Rabus diejenigen Bereiche hervor, die ihm besonders wichtig sind. Gleichzeitig ergibt sich aus der Differenz zwischen Präzision und Loslassen eine suggestive, fast bühnenbildhafte Dramatik. Das Bildgeschehen erscheint wie von einer Kamera gesehen: Hier zoomt sie heran, dort belässt sie weite Teile unscharf. Und plötzlich öffnen sich interessante formale Bezüge zu den christlichen Motiven von Renaissance und Barock: Die Altartafeln jener Epochen wurden für einen ganz spezifischen Ort auf eine bestimmte Fernwirkung hin gemalt. Betrachtet man sie aus der Nähe, was ursprünglich nicht vorgesehen war, ist man erstaunt, wie flächig und unscharf große Bildteile dargestellt sind.


Ein Krümmen

Wenn wir die jüngsten, auffallend dunkeltonigen Bilder mit jenen um 2005 entstandenen vergleichen, fällt auf, dass sich das Geschehen mittlerweile von den Figuren hin zur Landschaft verlagert hat: Statt übergroßer, aus der Welt der Comics entlehnter Personen erhebt Léopold Rabus die Weite und Einsamkeit der Landschaft zum zentralen Motiv. Die Figuren sind darin eingebaut und scheinen manchmal mit der Natur zu verwachsen. Während sich in den früheren Bildern die Personen überwiegend in häuslichen oder landwirtschaftlichen Innenräumen aufhalten, befinden sie sich nun schutzlos in freier Natur. Erschienen die Personen vormals ungleich monströser, mächtiger und gefährlicher, so kommt nun ihre Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit stärker zum Ausdruck. Die wesentlich bunteren Farben und karikaturhaften Überzeichnungen sind einer körperlichen und seelischen Verletzbarkeit gewichen. Auch wenn die existenzielle Seite im Werk von Léopold Rabus schon immer eine wichtige Rolle gespielt hat, ist sie nun griffiger und dringlicher geworden. Das heißt jedoch nicht, dass die Bilder zwangsläufig melancholischer geworden sind, denn die Überzeichnung führt immer auch etwas Skurriles mit sich, sodass wir ungläubig staunen und denken: Na, das gibt es doch gar nicht! Wie kann das sein? Indem Léopold Rabus die erlebte Wirklichkeit erheblich übersteigert, deutet er an, dass die wirkliche Welt ganz so fürchterlich wohl doch nicht ist, was durchaus auch etwas Beruhigendes hat. Wer sich also intensiv mit den Bildern befasst, dem bleibt zwar kein Abgrund erspart, doch gerade deshalb kehrt man seltsam beruhigt wieder in den Alltag zurück. In den um 2005 enstandenen Bildern verwendet der Künstler drei auffällige Stilmittel, die signifikant zur Überzeichnung der Figuren ins Monströse und Unheimliche beitragen, was zum Beispiel in La maison des oiseaux (Das Haus der Vögel, 2005) besonders gut zum Ausdruck kommt: Erstens sind die Köpfe überproportional groß im Verhältnis zu den Körpern. Zweitens werden die Köpfe manchmal in extremer perspektivischer Verkürzung von oben betrachtet dargestellt. Und drittens erscheinen die Pupillen oft weiß, wodurch der Eindruck völlig verdrehter Augen entsteht. Hinzukommt, dass die Personen häufig mit kalkweißer Haut und Gesichtsfarbe auftreten, wodurch sie eher Toten als Lebenden gleichen. Doch bereits in diesen frühen Bildern sind die Figuren teilweise derart ineinander verschachtelt, dass man alle Mühe hat, sie wieder zu »entwirren« und auseinanderzuhalten, beispielsweise in La bergère et le bucheron (Die Hirtin und der Holzfäller, 2006). Wer sägt hier an wessen Hand? Um wie viele Individuen handelt es sich? Oder ist hier gar ein filmischer Ablauf skizziert? Dasselbe dramatisierende Gestaltungsprinzip ist auch im Bild Dans une grange au Valais (In einer Scheune im Wallis, 2006) zu beobachten. Vergleichen wir diese Bilder mit den gegenwärtigen, fällt auf, dass Léopold Rabus entscheidende formale Methoden bereits vor mehr als fünf Jahren entwickelt und erprobt hat. Was aber bewirkt das Verschachteln der Figuren? Und warum müssen sie ihre Gliedmaßen manchmal so stark abwinkeln, dass schon das bloße Zusehen schmerzt? Das Krümmen und Verflechten sind radikale Möglichkeiten, am Beispiel der betroffenen Figuren aufzuzeigen, wie die menschliche Natur von archaischen Trieben einerseits und empfindlichen Unzulänglichkeiten andererseits geprägt ist. Léopold Rabus entfernt gewissermaßen die dünne Haut der Zivilisation und entlarvt das Bösartige und Triebgesteuerte jenseits unserer antrainierten Höflichkeit und Rücksichtsnahme. Allerdings – und das ist ein entscheidender Punkt – kommt diese dunkle menschliche Seite nicht nur als mörderischer Überfall daher, sondern stets in Begleitung des labilen, ungeschickten oder altklugen Gestus der Protagonisten. Ein Künstler wie Léopold Rabus könnte fraglos noch viel brutaler malen. Dass er die dumpfe Bösartigkeit mit einer latenten Lernbehinderung und die sexuelle Gier mit peinlicher Umständlichkeit paart, macht bei aller Monstrosität der gewählten Mittel die Menschlichkeit seiner Malerei aus. Er führt weder die Dummen zur reinen Belustigung vor, noch ergötzt er sich an reinen Gewaltexzessen. Indem er geradezu komplementäre emotionale Welten, die jeweils unglaubliche Gefühle auslösen können, geschickt miteinander verzahnt, hat Léopold Rabus ein Instrumentarium gefunden, das nicht nur in der Gegenwartsmalerei von seltener Einmaligkeit ist, sondern das ihm ein großes thematisches Spektrum für die Zukunft öffnet.


Nicht reden, malen

Doch in welchem Verhältnis steht die Position von Léopold Rabus zur Malerei des letzten Jahrhunderts und der Gegenwart? Zunächst fallen zwei wichtige Traditionslinien auf: Der scharfe, detailorientierte Verismus der Neuen Sachlichkeit, wie ihn beispielsweise Otto Dix und George Grosz in den 1920er-Jahren besonders körperbetont entwickelten. Und außerdem die Kompositionsprinzipien des Surrealismus, die darauf ausgerichtet waren, die rationale Kontrolle auszuschalten und stattdessen die Kräfte des Unbewussten als gestaltende Energie in die Ausformulierung der Bilder einfließen zu lassen. Die verschiedenen realistischen und fotorealistischen Tendenzen um 1970, beispielsweise bei Johannes Grützke oder Franz Gertsch, können als kritische Reflexionen der gesellschaftlichen Verkrustungen jener Zeit als »Missing Link« dazwischen lokalisiert werden. Dem Verismus und manchen realistischen Strömungen ging es jedoch überwiegend darum, gesellschaftliche Missstände mit den Mitteln grotesker Übertreibung anzuprangern, um das öffentliche Bewusstsein zu schärfen. Léopold Rabus hingegen verfolgt keine derartigen politischen oder gesellschaftlichen Ziele. Seine Malerei ist nicht politisch motiviert. Und surrealistisch ist in seinen Bildern allenfalls der Moment, an dem er unzusammengehörige Dinge miteinander zu paradoxen Konglomeraten verschraubt. Der Entstehungs- und Malprozess hingegen erfolgt mit ausgesprochen rationaler Kontrolle, ist anders gar nicht möglich. Zum Verständnis seiner Bilder ist es daher wesentlich, diese historischen Positionen genau zu klären. Wie fast alle Künstlerkollegen seiner Generation hat Léopold Rabus nicht die Vorstellung, mit der Kunst die Welt verbessern zu können oder zu müssen. Seine Bilder setzen nicht auf missionarisch motivierte Überzeugungsarbeit, sondern vielmehr auf Beteiligung: Ihre Drastik und Dramatik sind darauf ausgerichtet, die Betrachter unmittelbar ins Bildgeschehen zu ziehen, um sie sozusagen Teil der bizarren Verstrickungen und Verflechtungen werden zu lassen. Anders als gegenstandslose zeitgenössische Positionen, wie zum Beispiel Bernard Frize, Katharina Grosse, Lori Hersberger, Renée Levi oder Christine Streuli, ist Léopold Rabus nicht an malerischer Selbstreferenzialität oder ornamentalen Fragen interessiert. Hingegen ist das raumgreifende Überborden, das Sprengen vertrauter, handhabbarer Bildformate schon eher eine vergleichbare Kategorie. Betrachtet man die aktuelle Schweizer Malerei, sind die konzeptionellen Ansätze eines Mario Sala oder Christian Vetter seine Sache nicht. Der ins Diskursive tendierenden Komplexität setzt Léopold Rabus die wackligen Figuren und landwirtschaftlichen Reste seiner Region mit untrüglichem Gespür für die großen Themen zwischen romantischer Hoffnung und fatalistischem Untergang entgegen. In diesem Punkt und im gelegentlichen Zurückblicken auf vergangene Epochen sind seine Bilder jenen von Klodin Erb vergleichbar. Auch wenn sich Erbs Figuren überwiegend in Innenräumen präsentieren, operieren ihre multiple Persönlichkeit und fragile Erschütterbarkeit in einem Terrain, das jenem von Léopold Rabus nicht ganz entfernt liegt. Mit dem Blick auf die Entwicklungen der neuen Leipziger Schule in Deutschland während der letzten Jahre finden sich bei allen grundsätzlichen Unterschieden immerhin Ansätze punktueller Vergleichbarkeit: Die melancholische Einsamkeit der Figuren bei Tim Eitel, die gemeinsame kollektive Erfahrung jüngster Vergangenheit in den havarierten Innenräumen von Abbruchhäusern bei Matthias Weischer und die ins Märchenhafte, Mythische neigenden Konstruktionen des großen Welttheaters bei Neo Rauch. Wo Daniel Richter mit gestischer Verve und sozialer Empfindsamkeit Untergangsszenarien unserer Zeit auf großformatige Leinwände bannt, hebt Léopold Rabus seine Ereignisse in einen überzeitlichen Rahmen und verschränkt sie mit der Brechung ins Skurrile. Hingegen verstehen beide Maler, ihre Geschehnisse souverän zu dramatisieren. Die bizarre Askese wäre schließlich noch ein Faden zu den vereinsamten, ausgezehrten Figuren bei Norbert Schwontkowski, wobei dessen Bildwelt eine skizzenhafte, schwebende Traumverlorenheit kennzeichnet und sich dadurch von jener bei Léopold Rabus klar unterscheidet. Die punktuellen Bezüge könnten bei allen offenkundigen Unterschieden weiter fortgesetzt werden. Doch bereits diese fragmentarischen Gegenüberstellungen zeigen die unverwechselbare Eigenständigkeit von Léopold Rabus. Wenn wir für einen Moment zu seinen ersten malerischen Anfängen um 2003 zurückblenden, die sich aus der stilisierenden Reduktion und dramatisierenden Zuspitzung von Comics herauskristallisierten, ist die atemberaubend rasche Entwicklung seines malerischen Werks evident und höchst bemerkenswert. In kaum mehr als sechs Jahren gelingt es dem Künstler, die in seiner Generation oftmals anzutreffende Nähe zur Welt der Comics zu verlassen, um zu einer ganz und gar eigenständigen visuellen Sprache zu finden, die es ihm erlaubt, die großen Themen menschlichen Lebens anzugehen und glaubwürdig auf unsere Gegenwart zu beziehen. Dass diese große Bühne nicht ohne Risiken des Absturzes ist, muss nicht eigens erwähnt werden. Doch das untrügliche Gespür für die notwendige Erdung dieser Themen und die überraschende Verschränkung von Monstrosität und Hinfälligkeit, die seine Figuren kennzeichnet, machen den Rang des Künstlers aus. Er scheut kein Risiko, er schielt keine Sekunde auf das Gebaren des Kunstbetriebs, sondern folgt allein seinen inneren Überzeugungen, weshalb man gespannt sein darf, welche Richtung seine Arbeit in nächster Zeit einschlagen wird. Eines aber steht fest: Wer in Léopold Rabus nur das Morbide und Abstoßende sieht, hat das Potenzial seiner Malerei nicht erkannt. Denn jenseits davon öffnen sich dem Künstler Möglichkeiten, in der Orchestrierung seiner Figuren den Zustand unserer Zeit in einem größeren, epochenübergreifenden Zusammenhang darzustellen.


 

1 Franz Böni, Ein Wanderer im Alpenregen. Erzählungen, Frankfurt am Main 1979, S. 9. f. In acht Erzählungen schildert Franz Böni (geb. 1952 in Winterthur) das entbehrungsreiche Leben von Außenseitern, Einzelgängern und Knechten, denen nichts geschenkt wird. In das Erleben der Widrigkeiten der Natur und des sozialen Alltags mischen sich ins Übersinnliche ausgreifende Wahrnehmungen, die von den Protagonisten allerdings nicht rational verortet werden können. Im Gegenteil: Wir erleben sie diesen Unbilden bis in ihre tiefsten Ängste ausgeliefert.

2 Léopold Rabus erwähnt, dass er bevorzugt surrealistische Kompositionsverfahren wählt, und nennt als Beispiel den »Cadavre exquis«. André Breton hat diese Methode folgendermaßen definiert: »Spiel mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann.« Wie die »Écriture automatique« dient der »Cadavre exquis« der gezielten Ausschaltung rationaler Kontrolle, um Vorstellungen des Unbewussten zu folgen. (Gespräch mit dem Autor am 9. Oktober 2008 im Atelier in Corcelles-Cormondrèche.)

3 Léopold Rabus schildert seine Vorliebe für das Mittelalter, für gotische Kathedralen, für Matthias Grünewald und Hans Holbein: »Ich verstehe die Texte in der Bibel nicht, aber in meinen Bildern gibt es ein gewisses religiöses und romantisches Gefühl.« (Gespräch mit dem Autor am 19. März 2009 im Atelier in Corcelles-Cormondrèche.)

4 Die beiden Protagonisten dieses Bildes leitete Léopold Rabus aus alten Zeitschriften ab. Allerdings handelt es sich dort um tote, am Boden liegende Personen in einem kriminalistischen Zusammenhang. Die nächtliche Szene in der Ecke des alten Gewächshauses geht indes auf eine konkrete Begegnung zurück.

5 Auf die Frage, ob seine Bilder eigentlich böse seien, antwortete Léopold Rabus, dass sich alle menschlichen Regungen darin fänden, unabhängig, ob man sie nun als gut oder böse einstufen möchte. (Gespräch mit dem Autor am 19. März 2009 im Atelier in Corcelles-Cormondrèche.)

6 Vgl. Léopold Rabus, Paintings 2003–2004, o. O., 2004. Darin schreibt Léopold Rabus zwei pointierte Sätze, welche die existenziellen Themen seiner späteren, großformatigen Bilder vorwegnehmen: »Die schönsten Blumen ernähren sich von Humus, Tod und Erde. Unsere Seelen steigen auf und unsere Haare wachsen in der Erde weiter, zwischen den Wurzeln geht das Leben weiter, es endet nie.« Ebd., o. S.
 



Text von Markus Stegmann